Serbien und der Kosovo: das Pulverfass am Balkan kann wieder hochgehen German Share Tweet German translation of Serbia and Kosovo: the Balkan powder-keg could flare up again – Part One and Part Two (December 14, 2007) Nach 15 Jahren des Konflikts und Hunderttausenden Toten, Verwundeten und Flüchtlingen bleibt die nationale Frage am Balkan weiterhin ungelöst. Es ist jetzt klar, wie realitätsfremd die Idee war, dass eine Vielzahl „sauberer“ bürgerlicher Nationalstaaten dieses historische Problem lösen könnte. Nach anfänglicher Euphorie über die neu gewonnenen unabhängigen Territorien entdecken die herrschenden Klassen jetzt, dass Entwicklung entlang kapitalistischer Linien unmöglich ist, ohne einander auf die Zehen zu steigen. Die gegenwärtige Situation weist täuschende Ähnlichkeit mit der Stimmung zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf. Die vom kapitalistischen System geschaffenen Widersprüche jener Tage führten zu einer Reihe von Balkankriegen, die in den Ersten Weltkrieg und den Versuch, die Situation durch die Bildung eines bürgerlichen Jugoslawiens unter serbischer Krone unter Kontrolle zu bekommen, mündeten. Der Zweite Weltkrieg brachte neuerlich ein nie da gewesenes Niveau an Schlächtereien und ethnischer Säuberung. Erst die soziale Revolution unter der multiethnischen PartisanInnenbewegung setzte diesem Horror ein Ende. Unter kapitalistischen Bedingungen konnte der Balkan noch keinen Frieden erleben, bestenfalls Zeiten eingefrorenen Konflikts. Dies ist wohl auch die beste Beschreibung für die gegenwärtige Periode. Serbien stellt den zentralen und wichtigsten Teil des Balkan-Puzzles dar. Ohne Zugang zum Meer und umgeben von kleineren Staaten mit beträchtlichen serbischen Bevölkerungsanteilen hatte die herrschende Klasse Serbiens in der Vergangenheit große Ambitionen, die zersplitterten Ministaaten des Balkans unter seine militärische Macht zu bekommen. Heute ist Serbien der größte Staat des ehemaligen Jugoslawiens und stellt eine potentielle Lokalmacht dar. Auch wenn die Krajina in Kroatien in den 1990ern von serbischen EinwohnerInnen gesäubert wurde, so bleibt doch zumindest die Republika Srpska ein konstituierender Teil des imperialistisch kontrollierten Bosnien-Herzegowina und die Hälfte der Bevölkerung des jüngst unabhängig gewordenen Montenegro orientiert sich weiterhin an Belgrad. Im Kosovo leben etwa 150.000 SerbInnen, weitere 200.000 leben als Flüchtlinge in Serbien selbst. In den neu geschaffenen (Halb-)Staaten am Balkan herrscht ein unguter ethnischer Setup. Durch die Einmischung imperialistischer Mächte unter starker US-amerikanischer Dominanz, die einen Kompromiss zwischen den jeweiligen Interessen in der Region erwirken konnte, wurde Ende des letzten Jahrhunderts jedoch eine relative Stabilität möglich gemacht. Heute, wo Russland neuerlich die weltpolitische Arena betritt, die EU ihre eigene von seinen atlantischen Verbündeten unabhängige Außenpolitik formulieren will und die USA ihren Militarismus ausbauen, liegen aber Unruhe und Spannung wieder in der Luft. Der Balkan ist wieder einmal in Unruhe geraten, bevor er überhaupt die Chance hatte zur Ruhe zu kommen. Serbien Serbien verzeichnete in den letzten drei Jahren nach einer Periode nur schleppender Erholung nach den NATO-Bombardierungen und dem Regimewechsel ein BIP-Wachstum von durchschnittlich 6,8%. Einige Regierungsvertreter bezeichnen zur Beschreibung dieses Phänomens das Land bereits als „Balkantiger“. Die älteren Generationen können bezeugen, wie sehr sich dieses neue kapitalistische Wachstum aber von jenem nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Bedingungen einer Planwirtschaft unterscheidet: während letzteres auf einer bis dahin nie da gewesenen Entwicklung der Produktivkräfte in allen Bereichen beruhte, hat das jetzige Wachstum seine Grundlage in der Demontage und im Ausverkauf eben jener Substanz, die in der Zeit der Planwirtschaft geschaffen wurde. Mehr noch, die Auswirkungen des Wachstums sind geografisch und sozial auf wenige Gebiete und eine winzige privilegierte Bevölkerungsschicht begrenzt. Egal welche Koalition seit Milosevic an der Macht war, eines blieb in Serbien seit dem Jahr 2000 gleich. Die wirtschaftliche Macht liegt in den Händen einer Gruppe von ÖkonomInnen des „G17Plus“, einem Think-tank unter Milosevic, der sich zu einer politischen Partei entwickelt hat, geführt von WirtschaftsexpertInnen, die ihre gut bezahlten Positionen in weltweiten Multis opfern, um für den Lohn von StaatsbürokratInnen zu arbeiten und ihrem Land in der Not zu „helfen“. Ihr Führer, der derzeitige Minister für Wirtschaft und Regionale Entwicklung in der aktuellen serbischen Regierung, Mladjan Dinkic, erhielt kürzlich den prestigeträchtigen „Financial Minister of the Year“-Preis des Magazins „Euromoney“. In der Erläuterung seiner Entscheidung bestätigt „Euromoney“, dass Dinkic die „schockierendste Taktik der Schocktherapie“ für den Finanzsektor verfolgte, indem er einfach 25 heimischen Banken die Betriebsgenehmigung entzog und ihre Angestellten entließ; damit machte er den Weg frei für ausländische Banken, die den Markt bezogen. Dieser Schachzug vermittelt einen Eindruck von Dinkic’ Wirtschaftsphilosophie! In den letzten paar Jahren wurde ein strikt neoliberales Wachstumsmodell verfolgt. Die Regierung ist stolz auf die Tatsache, dass Serbien gemeinsam mit Bulgarien bei der Gewinnbesteuerung die niedrigste Flat Tax Europas in der Höhe von nur 10% aufweist. Nach der Sättigung der osteuropäischen Märkte entdecken die Multis jetzt bisher ungeahnte Juwelen in Serbiens Ökonomie. 2006 wurde eine Rekordsumme von 4.387 Milliarden Dollar an ausländischen Direktinvestitionen erzielt, fast die Hälfte der gesamten Auslandsinvestitionen der vorangegangenen fünf Jahre. Die meisten Investitionen werden über die Privatisierung und den Aufkauf von garantiert proftablen Unternehmen im Bankwesen, im Telekommunikationsbereich, in der Alkohol- und Tabakindustrie und im Energiesektor lukriert. Die Länder mit dem größten Interesse an der serbischen Wirtschaft waren bisher Österreich, Deutschland, Griechenland und Slowenien. Das staatliche Energiemonopol, die Öl- und Gasindustrie und die Luftfahrtgesellschaft JAT dürften die nächsten sein, die in Zukunft privatisiert werden. Der Prozess erreicht jetzt seine Endphase, die größeren staatseigenen Betriebe sollen bis Ende nächsten Jahres verkauft sein. Ein „gutes Investitionsklima“ wird durch eine strikte Währungspolitik aufrecht erhalten. Die Inflation wird im einstelligen Bereich gehalten (6,6%), Steuern und Sozialversicherungsabgaben für potenzielle InvestorInnen gehören zu den niedrigsten in Mittel- und Osteuropa, Lohnzuwächse stehen unter strenger Kontrolle und erreichen trotz der guten Wachstumszahlen gerade die Höhe des geplanten Inflationsanstieges. Die Staatsausgaben waren 2006 völlig gedeckt, das Staatsbudget schloss mit schwarzen Zahlen ab. Gleichzeitig leben 10% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze von minimalen Sozialleistungen. Der Zugang zu Unterstützungsleistungen wurde stark erschwert, das Pensionsalter angehoben und Schulgebühren wurden eingeführt. Die offizielle Arbeitslosenrate beträgt 20,8%. Seit dem Beginn der Privatisierungen 2002 bis jetzt wurden mehr als 350.000 Werktätige entlassen. Die von den ökonomischen Umstrukturierungen am stärksten betroffene Schicht ist die traditionelle ArbeiterInnenklasse, die im Produktionssektor der großen staatseigenen Betriebe beschäftigt war. Neue Arbeitsplätze werden meist in kleinen Firmen im Dienstleistungsbereich, im Finanz- und im Telekommunikationssektor angeboten. Rund 60.000 Stellen wurden so geschaffen – nicht annähernd genug, um die vorangegangenen Entlassungen zu kompensieren. Viele frühere Industriestädte verwandeln sich nun in Geisterstädte. Das Wachstum konzentriert sich v.a. auf Belgrad und ein paar andere Gebiete im Norden mit guten infrastrukturellen und geografischen Gegebenheiten. Die Arbeitslosigkeit ist im Südosten Serbiens mehr als dreimal so hoch wie in Belgrad. Armutsraten erreichen im Süden bis zu 23%, in der Hauptstadt nur etwa 4%. Letztes Monat brach in der südserbischen Stadt Nis eine Gelbsuchtepidemie aus. Bis jetzt wurden 700 Menschen in Folge der Armut und ungenügender Wasserversorgung mit dem Virus infiziert. Die ArbeiterInnenklasse im Wandel Trotz nie da gewesener neoliberaler Angriffe von oben scheint es bislang keine organisierte Antwort seitens der Massen zu geben. Wir erleben eine Stabilisierung der herrschenden Strukturen, die Streikzahlen sind die niedrigsten seit Jahren und es gibt keine politische Artikulation der Mehrheit der Verlierenden im Prozess des Übergangs zum Kapitalismus. Wie ist das zu erklären? Die alte jugoslawische ArbeiterInnenklasse befindet sich in einem tiefen Prozess der Zersetzung. Die gegenwärtige Welle der Privatisierung ereignet sich nach einem turbulenten Jahrzehnt wirtschaftlichen Niedergangs, internationaler Sanktionen und des Kriegs, was die ArbeiterInnenklasse bereits atomisiert und desorientiert hat. In der Privatwirtschaft gibt es de facto keine Gewerkschaften. Die neuen Generationen von Werktätigen finden sich in kleinen, privat geführten Firmen mit bis zu 50 Beschäftigten wieder, voneinander und von jedweder Organisationstradition abgeschnitten, unter der strikten Disziplin skrupelloser einheimischer kleinbürgerlicher KapitalistInnen, die sich in den Kriegsjahren selbständig gemacht haben. Die älteren ArbeitnehmerInnen, die ihren Arbeitsplatz in den neustrukturierten Firmen behalten konnten, werden von der Armee der Arbeitslosen hinter ihnen in Schach gehalten. Sie mögen mit ihrer Stellung nicht zufrieden sein, aber diese ist immer noch besser als auf der Straße zu stehen. Die anderen haben in den 1990ern verschiedene Überlebensstrategien entwickelt wie etwa den Schwarzmarkt und den informellen Sektor. Serbien erlebt einen Trend der De-Urbanisierung, in dem ein Teil der Werktätigen aufs Land zurückkehrt. Das titoistische Regime hatte die geförderte Massenkollektivierung auf dem Land relativ früh aufgegeben und viele kleine private Landbesitzungen bestehen lassen, die in den letzten Jahren als soziales Sicherheitsnetz fungiert haben. Diese Eigentumsstruktur ändert sich nun schnell, weil kapitalistische Grundbesitzer im Zuge der Reorientierung der Ökonomie von der Industrie auf Landwirtschaft und Rohstoffexport fruchtbares Land aufkaufen. Ein ähnlicher Markt besteht in den Städten, wo die Lebensmuster sich rasch verändern. Während der 1990er ermöglichte das Regime Milosevic auf der Suche nach dem schnellen Geld ArbeiterInnen, ihre staatlichen Wohnungen zu kaufen. Gemeinsam mit der Ankunft ausländischer Banken und Kredite bereitete das den Weg für einen riesigen Immobilienboom. Die Wohnungspreise in Belgrad reichen in den besseren Gegenden von 1.000 bis 2.500 Euro pro Quadratmeter. Waren die Wohnviertel in Belgrad einstmals sozial stark gemischt, verkaufen nun Familien ihre Wohnungen in der Stadt oder vermieten sie und ziehen in die Vororte. Der Finanzmarkt, während des Kriegs noch unberührt, bot ausländischen Banken wie der österreichischen Raiffeisen große Gelegenheiten, saftige Profite zu machen und den Leuten Kredite anzubieten. Anders als in Kroatien und in Ungarn war die Verschuldung in Serbien aufgrund seiner Isolation recht niedrig. In den letzten paar Jahren wurden Kredite in Höhe von ca. 2,5 Milliarden Euro auf 874.885 KlientInnen vergeben. Der leichte Zugang zu Krediten bedeutete für viele Familien eine kurzfristige Erleichterung, dadurch entstand aber auch eine tickende Zeitbombe, die jederzeit hochgehen kann. Es scheint, als ob das Geld, das in die Wirtschaft gepumpt wird, sich in Luft auflöst. Die Produktion wurde nicht wieder aufgebaut, das Exportwachstum ist bescheiden, das Außenhandelsdefizit steigt. Die Schulden Serbiens belaufen sich auf 22 Milliarden Dollar und wachsen rasch. Die Regierung versucht, öffentliche Unterstützung für den Privatisierungsprozess zu gewinnen, indem sie einen gewissen Prozentsatz an Mitarbeiterbeteiligungen zuließ. Das Sozialprogramm für die im Umstrukturierungsprozess Entlassenen besteht aus Abfertigungszahlen je nach den erworbenen Arbeitsjahren. Jene, die freiwillig ausscheiden wollen, werden dazu in Form finanzieller Entschädigungen ermutigt. Alles muss geschmiert laufen und den ArbeiterInnen werden die Krumen vom Tisch versprochen, wenn sie den Prozess nicht stören. Die offizielle Taktik der Regierung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit besteht darin, die Werktätigen dazu aufzufordern, ihr eigenes kleines Geschäft zu gründen. Geschichten einiger Glücklicher aus den privatisierten Spitzenbetrieben, die neue Häuser und Autos erwerben konnten, nachdem sie ihre Anteile verkauft hatten, werden übermäßig ausgebreitet. Die meisten Diskussionen in der Gewerkschaft konzentrieren sich jetzt darauf, welchen Prozentsatz von den zum Verkauf freigegebenen Anteilen die Beschäftigten erhalten sollten. Ein neues Programm dieser Privatisierung wurde vor einigen Tagen angekündigt, dem gemäß alle BürgerInnen ihren Anteil der verbleibenden großen Privatisierungen in Aktien erhalten sollten. Diese Manipulationstaktik versetzt die ArbeiterInnen in eine schwierige Situation und trägt zu einer weiteren Erschütterung des alten Klassenbewusstseins und der Solidarität bei. Der frühere jugoslawische Autoherstellerriese Crvena Zastava aus der Stadt Kragujevac bietet dafür ein gutes Beispiel. Im August diesen Jahres entschied die Regierung, das Sozialprogramm abzuschaffen, das den Werktätigen in Zastava nach dem Angriff der Nato-Bomber, die 1999 die Fabrik angegriffen hatten, selbst dann Anstellung und einen Mindestlohn sicherte als die Fabrik stillstand. Etwa 4.400 ArbeiterInnen, die noch auf dieses Programm angewiesen sind, wurde eine Entschädigung in Höhe von 250 Euro für jedes in der Fabrik erworbene Jahr in Aussicht gestellt, wenn sie der Beendigung ihres Vertrags zustimmten. Die Gewerkschaft wies das Angebot zurück, Familien und ArbeiterInnen aus benachbarten Fabriken schlossen sich in Solidaritätsprotesten an und einige Tage sah es so aus, als ob die Stadt bereit zum Widerstand wäre. Die Regierung drohte daraufhin, dass jeder, der sich nicht vor Fristablauf am nächsten Tag zur Registrierung einfände, ohne Entschädigungsgeld entlassen würde. Dieser darauf folgende Tag sah entwürdigende Szenen von Menschenschlangen, wo Arbeiter einander drängten, um nicht selbst vor verschlossener Tür des Registrierungsbüros übrig zu bleiben. Einst waren die jugoslawischen ArbeiterInnen in einer weltweit einzigartigen Situation. Unter dem titoistischen Modell der „Selbstverwaltung“ „besaßen“ sie die Fabriken, in denen sie arbeitete. Der damit verbundene Stolz ist jetzt Geschichte. Natürlich haben nur wenige Leute die Illusion, dass sie mit dem erhaltenen Geld ein kleines Geschäft eröffnen können. Doch vor die Wahl gestellt, entweder die „Eigentümerschaft“ für einen dahin rostenden alten Betrieb, der schon seit Jahren nicht mehr funktioniert, zu übernehmen oder ihn für ein paar tausend Euro nach einem Jahrzehnt des Hungers zu verkaufen, ist es nicht schwer zu erraten, wofür sie sich entscheiden. Die einzigen Firmen, die die Produktion wieder aufgenommen haben, dürften die privaten sein. Das vorherrschende Gefühl ist, dass es keine Alternative gibt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sogar nach der Erfahrung eines windigen Privatisierungsdeals die ArbeiterInnen die Fabrik besetzen und eine neuerliche Privatisierung verlangen, aber diesmal eine „faire“. Soweit ist der Prozess schon gediehen. Dann gibt es jene ganz unten, die nichts zur Seite schaffen und auf dem Markt anbieten können, jene ohne verkäuflichen Besitz, weder Land noch Wohnung noch überzählige Jobs, für die sie entschädigt werden könnten – ArbeiterInnen und Arbeitslose unter beständiger Bedrohung, unter die Armutsgrenze zu fallen und in Vergessenheit zu geraten. Diese Situation legte die Basis für ein recht neues Phänomen sozialen Protests. So kam es zu einer Reihe von Hungerstreiks. Die verbreitetste Form des Streiks im heutigen Serbien ist jene, in der sich ArbeiterInnen selbst in der Fabrik einsperren, in den Hungerstreik treten und die Forderung nach Verhandlungen mit den zuständigen Autoritäten erheben. Das ist keine Taktik eines offensiven Streiks in einem hitzigen Klassenkampf, sondern ein verzweifelter Akt von Menschen, die versuchen Aufmerksamkeit zu erlangen. Die Selbstmordrate ist deutlich angestiegen. Im April geriet der Fall der 50jährigen Metallarbeiterin Dragica Simic in die Schlagzeilen. Nachdem sie die Nachricht vernommen hatte, dass sie gemeinsam mit 190 ihrer KollegInnen als „Arbeitskräfteüberschuss“ gefeuert werden sollte, versuchte sie verzweifelt mit dem Vorgesetzten zu reden. Dieser ignorierte ihre Appelle. Am nächsten Morgen fanden sie ihre KollegInnen in der Fabrik aufgehängt. Einige Jahre davor galt Dragica als eine der besten ArbeiterInnen der Stadt. Ihre Anerkennungsurkunde wurde neben ihrem Leichnam gefunden. Die bittere Erfahrung der letzten 15 Jahre und die allgemeine Demoralisierung hat zu Skepsis gegenüber jeder Art politischer Betätigung geführt, die Motive hinter den Aufrufen zur Organisierung werden skeptisch hinterfragt und es gibt kein Vertrauen in die Aussichten kollektiver Aktion. Die ArbeiterInnen suchen so gut sie können nach individuellen Lösungen, um ihre Familien zu erhalten. „Solidarität“ ist ein Wort, das in Serbien heute selten gehört wird. Es ist ein Krieg jeder gegen jeden, das blanke Antlitz des Kapitalismus, in dem nur die Starken überleben können. Die neu errichtete Infrastruktur hat wenig zu tun mit dem allgemeinen Wohl der Bevölkerung, aber alles mit dem Interesse der ausländischen InvestorInnen. Autobahnen werden für den internationalen Handel gebaut, während viele Ortschaften nicht einmal gepflasterte Straßen haben; Stadtzentren verwandeln sich in exklusive Geschäftsviertel aus Stahl und Glas, während die Viertel der Werktätigen mit aus den 1970ern stammenden Bauten verkommen. Für ein nachhaltiges Wachstum in der Zukunft werden keine gesunden Fundamente gelegt. Das Wesen des Kapitals, das ins Land kommt, ist meist spekulativ und parasitär. Was wird sein, wenn es nichts mehr zu verkaufen gibt? Das ist die unbequeme Frage, die derzeit niemand stellt. Die Menschen erleben derzeit einen paradoxen Wirtschaftsboom, an dem sie nur oberflächlich und kurzfristig teilhaben können. Es wird offensichtlich, dass ökonomisches Wachstum nicht automatisch für besseren allgemeinen Lebensstandard sorgt. Jahrelang hieß es, dass jeder Opfer bringen müsse, um ausländisches Kapital und Investition anzuziehen, wovon dann alle profitieren würden. Offensichtlich ist das für die Mehrheit aber nicht der Fall. Das gegenwärtige wirtschaftliche Wachstum basiert nicht auf dem dauerhaften Fortschritt der Infrastruktur der Produktivkräfte, die während der Jahrzehnte der Planwirtschaft aufgebaut worden war und soziale Fortschritt ermöglichte, sondern ganz im Gegenteil auf der anarchischen Zerstörung dieser Fundamente, dem Transfer des Kapitals ins Ausland und beschränkten Investition in Nischensektoren und Monopolen, die als Milchkühe für ausländische KapitalistInnen dienen können. Und selbst wenn das Wachstum in der jetzigen Geschwindigkeit anhält, wird es zumindest sieben weitere Jahre dauern, bis Serbien das BIP erreicht, das es vor der Einführung des Kapitalismus 1991 aufweisen konnte. Politische Lage Aber es gibt eine Schicht der Bevölkerung, die vom Übergangsprozess profitieren dürfte. Der Zustrom ausländischen Kapitals schafft neue Gebräuche. Menschen in Geschäftsanzügen, die bis spät in den Glastürmen arbeiten, sind allgegenwärtig. Die Illusionen in den Kapitalismus sind vermutlich in der Jugend am größten. Junge ausgebildete Menschen mit Fremdsprachenkenntnissen haben es jetzt leichter als zuvor, Arbeit zu finden. Ausländische Firmen finden hochqualifizierte Leute vor, die bereit sind für ein paar hundert Euro und die Aussicht auf die große Karriere zu arbeiten. Die Studiengebühren sind in den letzten Jahren stark angestiegen, vielfach betragen sie bis zu 2.000 Euro im Jahr, Bücher und Lebenshaltungskosten nicht inbegriffen. Jene, die sich das nicht leisten können, landen in schlechter bezahlten Jobs wie KassierInnen oder als Security-Personal. Andere mit genug Geld betrachten die Studiengebühren als Kosten, die sie für den Zugang zu einer Karriere zu zahlen gewillt sind. Diese aufsteigende Schicht ist in der Offensive. Sie fand politischen Ausdruck in der Liberaldemokratischen Partei (LDP), ein Splitter der größten reformistischen Partei – der Demokratischen Partei (DS) des ermordeten Premierministers Zoran Djindjic. Die LDP führte eine aggressive Kampagne, in der sie die DS beschuldigte, Kompromisse mit den NationalistInnen und den Elementen des früheren Regimes einzugehen und Serbien nicht rasch in die EU bringen zu wollen. Sie schaffte den Einzug ins Parlament, indem sie eine Reihe enttäuschter WählerInnen und junger Menschen in den Städten anzog. Abgesehen davon gab es in Serbiens politischer Szene in den letzten paar Jahren keine bedeutsamen Veränderungen. Die eindruckvollste Tatsache ist, dass es links der Mitte noch immer keine organisierte politische Kraft gibt. Die VerliererInnen des Übergangsprozesses haben niemanden, für den sie stimmen können. Die Demokratische Partei steht in Verbindung mit der Europäischen Sozialdemokratie, doch sie bleibt eine Partei der Mitte mit einer klar gegen die ArbeiterInnenklasse gerichteten Orientierung. Die Serbische Radikale Partei konnte dieses Vakuum eine Zeit lang mit ihren populistischen antireformistischen Losungen für sich nutzen, bis sie zur stärksten Kraft im Lande und damit vorsichtiger wurde. Sie stagnieren und werden wie ein überspannt aufgeblasener Ballon platzen, sobald sie gezwungen werden, Verantwortung zu übernehmen. Ihre bloße Absicht ist es, die heimische Unzufriedenheit zu dämpfen und die Rolle der ultranationalistischen Bedrohung für die herrschende Klasse Serbiens in den Verhandlungen mit dem Westen zu spielen. In Ermangelung jedweder Bewegung von unten bilden die politischen Parteien fortwährend wechselnde Koalitionen, während die Essenz des Regimes immer dieselbe bleibt. Die Demokratische Partei regiert zur Zeit in einer Koalition mit den „G17Plus“ und dem Premierminister Vojislav Kostunica von der konservativen Demokratischen Partei Serbiens. Nach ein paar rauen Jahren des Kampfes um Positionen vor dem Beginn des Privatisierungsprozesses scheint jetzt jeder seinen Platz gefunden zu haben und bereit zu sein, den Kuchen zu teilen. In dieser generellen Atmosphäre wurde die ideologische Offensive von rechts zur Norm. Die orthodoxe Kirche besetzt einen wichtigen Platz in den Medien und im öffentlichen Leben. Es wurden ihr die Schulen und die Streitmächte geöffnet. Das Ausmaß dieser reaktionären Welle kann daran ermessen werden, dass der königlichen Familie ihre Besitztümer in Belgrad zurückgegeben wurden und ihre Mitglieder als Promis in der Öffentlichkeit auftreten. Die Geschichte der PartisanInnenbewegung und des Zweiten Weltkriegs wurde völlig umgeschrieben. Anders als in Zagreb, wo ein Teil der herrschenden Klasse versucht, die PartisanInnenbewegung in ihre Ideologie eines unabhängigen kapitalistischen Kroatiens zu integrieren, hat sich die herrschende Klasse Serbiens entschlossen, dieses Kapitel aus den Geschichtsbüchern völlig zu streichen und betrachtet das Vermächtnis der Bourgeoisie vor dem Krieg als ihren Ausgangspunkt. Die mit dem Kommunismus und den PartisanInnen verbundenen Namen wurden aus allen Institutionen und Straßen entfernt und neue Denkmäler mit frischen Symbolen und eine neue Hymne wurde geschaffen. Kulturell ist das Land hinter den Beginns des letzten Jahrhunderts zurückgefallen. Jetzt wird der Boden ideologisch aufbereitet für eine turbulente Zukunft, in der die herrschende Klasse Serbiens ihren Weg durchboxen und sich selbst als imperialistischer Partner in der Region etablieren muss, wie sie es das nach dem Ersten Weltkrieg getan hat, als es mit der Herrschaft über das alte bürgerliche Jugoslawien dafür belohnt wurde, ein Viertel seiner Bevölkerung geopfert zu haben. Das bereitet den Boden für eine kriegslustige Haltung der herrschenden serbischen Elite in der Frage des Status des Kosovo, die wir in Teil 2 dieses Artikels beleuchten werden. Was ebenso bereitet wird, ist künftig eine mächtige Explosion des Klassenkampfes in Serbien. Bislang ist es gelungen, den Deckel auf die Kämpfe der ArbeiterInnenklasse zu halten. Ein Teil der Bevölkerung leidet fürchterlich, während ein anderer einen gewissen Anteil am Kuchen zu ziehen beginnt. Wir erleben hier eine soziale Polarisierung, der Reichtum ist extrem ungleich verteilt. Wenn wir uns die Lage in Slowenien anschauen, sehen wir Serbiens Zukunft. Mit der kapitalistischen Entwicklung geht eine Stärkung der ArbeiterInnenklasse einher und damit der Klassenkampf. Der Streik im Ford-Werk in St. Petersburg in Russland nach 12 Jahren fast völliger Stille auf Seiten der russischen ArbeiterInnenklasse ist Anzeichen dafür, wozu die ArbeiterInnenklasse fähig sein kann. In vielerlei Hinsicht ähnelt die Situation in Serbien jener in Russland bis in die jüngste Vergangenheit. So wie der Klassenkampf sich in Russland wieder auf die Tagesordnung hebt, so wird er auch in Serbien wieder einkehren, sobald die ArbeiterInnen die glorreichen Traditionen ihrer eigenen Vergangenheit entdecken. Momentan gibt es nicht viel mehr als die Glut eines Feuers, das beinahe ausgegangen zu sein scheint. In der Zukunft wird es wieder auflodern. Teil 2 Die Atmosphäre in den Straßen Belgrads hat sich in den letzten paar Monaten grundlegend verändert. Nachdem die allgemeine Stimmung von einer Mischung aus Entpolitisierung und Apathie bestimmt war, geriet der Kosovo zu Beginn der gescheiterten Verhandlungen durch den Medienrummel und die Unterstützung Russlands wieder ins Rampenlicht. Es herrscht ein allgemeines Gefühl der Bedrücktheit vor und Gerüchte über einen neuerlichen Krieg gehen herum. Der harte Standpunkt der serbischen Regierung bezüglich des Kosovo war für viele eine Überraschung. Es war naiv zu glauben, dass sich diese PolitikerInnen der Post-Milosevic-Ära im Business-Outfit irgendwie anders benehmen würden, wenn es um das „nationale Interesse“ geht. Als sie die „demokratische Opposition“ waren, haben sie Milosevic für seine nationale Politik in den früheren Republiken ja auch nie kritisiert. Ihre „Opposition“ bestand vielmehr darin, die Wirtschaft – entsprechend den Wünschen des Imperialismus - so schnell wie möglich zu privatisieren. Die herrschende Klasse in Serbien ist es nach sieben Jahren müde, sich „anständig zu benehmen“, obwohl sie weiterhin vom Imperialismus gestoßen und gedrängt wird. Seit die Großmächte entschieden haben, das frühere Jugoslawien nicht als geopolitische Einheit in den Grenzen wie unter Tito zu belassen, hat die herrschende Klasse in Serbien ihre historische Rolle verloren und wurde zu einem Hindernis in der Region. Ihr aktueller Status eines erniedrigten Staates, der von aller Welt gebissen wird, steht in krassem Gegensatz zu ihrem objektiven Potenzial und Ehrgeiz. Als ob der Verlust von Mazedonien, der Krajina in Kroatien und Bosnien in den 1990ern nicht genug wäre, wurde Belgrad für den Sturz von Milosevic und die Öffnung seiner Wirtschaft auch noch mit dem Verlust von Montenegro belohnt und jetzt wird der Kosovo verlangt. Die herrschende Klasse Serbiens erfüllt all ihre internationalen „Pflichten“ und das einzige, was sie dafür im Gegenzug will, ist die Chance, zumindest einen Teil ihrer früheren Rolle in der Region wieder zu erhalten. Als der größte Staat in der Region mit hoher militaristischer Tradition sieht sich Belgrad selbst als natürliche Lokalmacht. Wie das älteste Kind, das von seinen Eltern wegen vieler kleinerer Geschwister übersehen wird, ist Belgrad jetzt trotzig und Russland sieht sich glücklich, dem Raum zu geben. Russischer Einfluss Das Versagen der scheinbar nie endenden Gespräche über den finalen Status des Kosovo liegt an der Unfähigkeit Belgrads und Pristinas, zu einer Übereinkunft zu kommen. Das ist natürlich Unsinn. Belgrad ist nur Dank der Rückenstärkung durch Russland in der Position für Verhandlungen, und die herrschende Klasse des Kosovo würde angesichts des serbischen Militärs nicht existieren wenn nicht dank der USA und ihrer vor Ort stationierten Truppen. Ein ausgedehnter Verhandlungsprozess dient als Bühne, hinter der die Großmächte genug Zeit haben, die Angelegenheit unter sich zu regeln. Seit dem 11. September ist es für die ImperialistInnen recht schwierig geworden, als vereinte „internationale Gemeinschaft“ zu handeln. Die USA drängen jetzt auf Unabhängigkeit um jeden Preis. Die EU folgt der US-amerikanischen Linie, weil sie einen unabhängigen Kosovo als Vorwand dafür nutzen könnte, mehr Initiative in ihrer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu ergreifen. Doch sie hat Probleme mit Mitgliedern wie Spanien, Rumänien und der Slowakei – die alle Minderheiten in ihren Territorien haben – und Griechenland, das seine eigenen Interessen in der Region verfolgt. Russland andererseits ist entschlossen gegen eine Unabhängigkeit des Kosovo. Erst vor wenigen Monaten waren sowohl die westliche wie auch die serbische Presse davon überzeugt, dass Putins Standpunkt zum Kosovo nur ein Verhandlungstrumpf war und dass irgendwann ein Kompromiss erzielt werden könnte. Das ist nun nicht der Fall. Russland ist vom bloßen Verhandeln als dem seit Jelzin geltenden modus operandi abgegangen. Moskau ist in vieler Hinsicht in der gleichen Situation wie Serbien. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und trotz Russlands Integration in die „internationale Gemeinschaft“ behielt die USA ihre Politik des Kalten Kriegs bei der militärischen Ausweitung und der Umkreisung Russlands bei. Das Ausdehnen der NATO nach Osten ist etwas, dass Russland nicht länger tolerieren kann. Der Zugang zu Georgien und der Ukraine und die Errichtung eines Raketenabwehrsystems in Osteuropa wäre für Moskau ein Schritt zu weit. Russland muss jetzt sprechen oder für immer schweigen. Moskau hat auch davor schon bewiesen, dass es die Kosovo-Frage sehr ernst nimmt. Man erinnere sich an die Übernahme des Flughafens von Pristina im Sommer 1999. Parallel zum Friedensabkommen zwischen Belgrad und der NATO machte Milosevic einen Deal mit Russland hinter verschlossenen Türen. Russische Truppen stürmten den Flughafen hinter den zurückweichenden serbischen Kräften und hinderten den NATO-Kommandanten Michael Jackson am Betreten des Grundstücks. Das war damals ein ernstzunehmender Vorfall mit Schusswechsel zwischen der NATO und den russischen Truppen. Moskau verlangte seinen eigenen Kontrollsektor im Kosovo. Jelzin schließlich wich zurück und stimmte zu, das russische Kontingent unter NATO-Kontrolle zu stellen. Dieser Zug verärgerte die russischen Generäle und Milosevic. Das gesamte südliche Balkangebiet rückte angesichts der zunehmenden Bedeutung von dort lagernden Öl- und Gasreserven in den Mittelpunkt geopolitischen Interesses. Russlands Rückkehr auf die internationale Bühne beruht auf dessen eigener Energiepolitik und zur Zeit versucht es verbissen, die Errichtung der Pipeline Nabucco durch Washington und Europa zu verhindern. Diese ehrgeizige Verbindung von Royal Dutch Shell, Bechtel und General Electric sollte Russland umgehen und der EU einen alternativen Versorgungsstrang aus dem Mittleren Osten und der Kaspischen See durch die Türkei und Südeuropa verschaffen, indem sie ausschließlich durch NATO-Mitgliedsstaaten führt. Ein unabhängiger Kosovo und die gigantische US-Militärbasis Bond Steel, die auf dessen Territorium steht, werden vielfach als Teil dieses Plans betrachtet. Russland antwortete darauf mit dem Plan einer South Stream Pipeline, die um die Ukraine und Weißrussland herumlaufen würde und Ungarn durch das Schwarze Meer, Bulgarien, Serbien und Kroatien erreichen sollte. Bislang hat die russische Lukoil über 1,5 Milliarden Euro in Rumänien, Bulgarien, Mazedonien und Serbien investiert. Auf dem im Sommer stattgefundenen Südosteuropäischen Energiegipfel in Zagreb sprach Putin recht offen über die Absicht, die serbischen und kroatischen staatlichen Ölmonopole aufzukaufen. Im Mai davor wirbelten prowestliche Medien in Serbien und die Demokratische Partei wegen des Statements des serbischen Führers der Radikalen Partei, Tomislav Nikolic, viel Staub auf, der auf die Anschuldigung, die Radikalen wollten Serbien zu einer russischen Provinz machen, geantwortet hatte. Nikolic meinte, er würde Serbien lieber als russische Provinz denn als europäische Kolonie sehen. Das wurde als Angriff auf die Souveränität eines Landes durch die dunklen Kräfte der Vergangenheit, die Serbiens Modernisierungsprozess anhalten wollten, interpretiert. Einige Monate später sagte der Führer der Demokratischen Partei und serbische Präsident, Boris Tadic, bezüglich der Folgen einer potenziellen Unabhängigkeit des Kosovo zur tschechischen Presse: “Wenn die EU-Länder die Unabhängigkeit des Kosovo unterstützen, werden wir mit der europäischen Integration große Probleme haben. Die letztendliche Konsequenz wird ein isoliertes Serbien oder ein Szenario, in dem wir zu anderen Ländern der Welt bessere Beziehungen haben, sein.“ Leon Kojen, ein Mitglied des serbischen Verhandlungsteams, bemerkte kürzlich, dass solang der Westen davon ausgeht, dass der Weg der euroatlantischen Integration für Serbien eine ausgemachte Sache sei, sie einen unabhängigen Kosovo als die optimale Lösung betrachten würden. Der serbische Außenminister droht damit, diplomatische Konsequenzen für jedes Land zu ziehen, das die Unabhängigkeit der Provinz anerkennt. Die letzten Treffen der serbischen SpitzenvertreterInnen mit den RepräsentantInnen des russischen Gasmonopols Gazprom weisen klar darauf hin, dass der eingeschlagene Kurs auch leicht verändert werden kann und die letzten und wahrscheinlich saftigsten Stücke der serbischen Privatisierung Russland angeboten werden könnten. Wie weit Belgrad diesen gegenwärtigen Flirt mit Moskau verfolgt, bleibt abzuwarten. Die EU nimmt die Zeichen offensichtlich ernst. Vor einigen Tagen versprach sie eine Million Euro nichtrückzuzahlender Beitrittshilfe an Serbien für die nächsten fünf Jahre sowie raschere Aussichten auf die Unterzeichnung des Übereinkommens zur Stabilisierung und Vereinigung, das die Tore für noch mehr EU-Förderung öffnen würde. Die herrschende Klasse Serbiens ist in dieser Frage gespalten. Ein Teil ist für Russland offen, während der andere mit harten Bandagen um den Kosovo kämpft. Gemeinsam spielen sie wieder einmal geopolitisches Poker in bester Tradition Milosevic’. Es zeigen sich bereits erste Ergebnisse. Das Problem beim Spielen ist, dass man beim Bluffen gezwungen ist, an einem gewissen Punkt, alles zu riskieren. Man möge sich über die Folgen einer derartigen Politik beim früheren Regime Milosevic erkundigen. „Unabhängiger Kosovo“ Es wird augenscheinlich, dass der Kosovo in der Region in Zukunft die Rolle Zyperns spielen wird. Die Verhandlungen befinden sich an einem toten Punkt, weil die imperialistischen Mächte unfähig dazu sind, einen Kompromiss zu schließen und Serbien um jeden Preis seine Ansprüche auf dieses Gebiet behauptet. Wahrscheinlich wird sich Pristina unabhängig erklären und Washington und die Mehrheit der EU werden ihre Anerkennung aussprechen, jedoch ohne Resolution des Sicherheitsrates und gegen den Widerstand Moskaus und seiner Verbündeten. Ein unabhängiger Kosovo wird eine beständige Quelle der Instabilität und nötigenfalls der Sündenbock für die Aufrührung serbischen Nationalismus sein. Es muss klar sein, was wir unter einem „unabhängigen Kosovo“ verstehen. Volle Souveränität und ein unabhängiges Territorium ist in niemandes Sinne, nicht einmal in jenem der herrschenden Clique in Pristina. Der aktuelle „Ahtisaari Plan“ bietet der Bevölkerung des Kosovo eine „überwachte Unabhängigkeit“ mit ausländischer Kontrolle in der Position einer Internationalen Zivilen Repräsentanz, die auch als Spezialvertretung der EU agieren würde, mit politischen Kompetenzen ähnlich jenen des Hohen Repräsentanten in Bosnien und Herzegowina. In Wahrheit ist das der Status eines Protektorats mit begrenzter politischer Souveränität und der Präsenz ausländischer Truppen auf seinem Territorium. Wir sehen einen weiteren imperialistischen Satellitenstaat in der Region – eine winzige frühere jugoslawische Provinz, von der 360.000m² von der US-Militärbasis belegt sind. Der Kosovo wird dem Zugriff Serbiens nicht entrinnen. Im Versuch Belgrad zu überreden, dezentralisiert der Ahtisaari-Plan den Kosovo völlig und bietet Serbien über die Hintertür Einfluss über die serbische Minderheit im Norden der Provinz, wo Pristina de facto keine Autorität besitzt. Selbst wenn das nicht so wäre, bleibt der verarmte Kosovo abhängig von der wirtschaftlichen Macht Belgrads. Umgeben vom siebenmal größeren Serbien als sein Hauptsprachrohr in den Westen ist der Kosovo ein leichtes Ziel. Etwa 70 Prozent der Waren des Kosovo kommen aus Serbien und in der Stromversorgung ist er massiv abhängig. Belgrad macht schon klar, dass es wirtschaftliche Sanktionen verhängen und das Leben so schwer wie möglich machen wird, wenn die Provinz ihre Unabhängigkeit erklärt. Als ob das Leben der Bevölkerung nicht schon hart genug wäre! Etwa 37 Prozent der KosovarInnen leben in Armut, 15 Prozent davon in extremer Armut. Die Arbeitslosigkeit beträgt etwa 40-50 Prozent. Das BIP pro Kopf ist mit etwa 1.200 Euro das niedrigste in Europa. Das Budget ist massiv abhängig von internationaler Unterstützung (34%) und Zuwendungen von im Ausland arbeitenden AlbanerInnen (20%). Das Außenhandelsdefizit steigt steil an mit Exporten in der Höhe von 78 Mio. Euros gegenüber 1,3 Mrd. Euros an Importen 2006. Stromausfälle gehören in Pristina zum Alltag. Die Industrieproduktion wurde nicht erneuert, und die Bevölkerung hat von den über drei Millionen Euro, die die Provinz an ausländischer Hilfe seit 1999 erhalten hat, wenig gesehen. Klagen der Medien des Kosovo über Korruption der UN-geführten Mission und die ausländischen Vertragspartner, die in der Provinz ihre Geschäfte machen, sind weit verbreitet. Laut einem UN-Bulletin vom Oktober 2006 vertrauen nur 30 Prozent der KosovarInnen der gegenwärtigen UN-Administration. Gleichzeitig ist die politische Elite ein Archetypus der Mafiaherrschaft, die während des Krieges im früheren Jugoslawien geschaffen wurde. Der ärmste Parteiführer der letzten Wahlen weist seinen persönlichen Reichtum mit 250.000 Euro aus, das Vermögen des reichsten Kandidaten wird auf 420 Millionen geschätzt. Kein Wunder, dass mehr als die Hälfte der BewohnerInnen des Kosovo sich im November entschieden, nicht zu den Wahlen zu gehen. Die Wahlbeteiligung fiel von 80 Prozent bei den ersten Wahlen nach dem Krieg auf nur 43 Prozent heute. Alle KandidatInnen standen für die Unabhängigkeit von Serbien, Hashim „Die Schlange“ Tachi, der frühere Anführer der Kosovarischen Befreiungsarmee im Dienste des, gewann die Mehrheit der Stimmen. Diese Heuchler bedienen einen antiserbischen Nationalismus, während sie den Kosovo gleichzeitig bewusst in eine Halbkolonie des Weltimperialismus verwandeln. Die KosovarInnen werden sich zusehends der Falle, in die sie die PolitikerInnen treiben, bewusst. Unabhängigkeit auf kapitalistischer Basis bietet keine konkreten Aussichten auf eine Hebung des Lebensstandards in diesem unterentwickelten Gebiet, noch bietet sie ein Ende des Einflusses der serbischen Bourgeoisie. Wegen dieser halben Lösung sind die politischen Kräfte im Kosovo gezwungen, Marionetten des Imperalismus zu werden, abhängig vom guten Willen und den internen Verhandlungen der Großmächte. Die soziale Lage im Kosovo ist unerträglich, die Programme der politischen Parteien entsprechen nicht den Forderungen der Massen. Weitverbreitete Unzufriedenheit hat die aktivistische Organisation „Selbstbestimmung“ (Vetevendosje!) an die Front des Kampfes getrieben. Geführt vom früheren Studenten Albin Kurti fordert diese Gruppe bedingungslose Unabhängigkeit und Zurückweisung der Verhandlungen mit Serbien einerseits und bewahrt sich andererseits eine starke antiimperialistische Rhetorik, eine Mischung aus Anti-Korruption und sozialen Forderungen. Das wahre Wesen der ausländischen Verwaltung enthüllte sich im Februar 2007, als die UN-Kräfte zwei DemonstrantInnen bei einer von Kurti organisierten Kundgebung töteten - er wurde bald darauf verhaftet. Bei seiner Gerichtsverhandlung wies Kurti korrekt darauf hin, dass der Ahtisaari-Plan nur neuerliche Konflikte und Verbrechen in großem Ausmaß in den Kosovo bringen würde. Was Kurti leider nicht erkennt, ist, dass ein unabhängiger Kosovo auf einem kapitalistischen Balkan mit oder ohne Präsenz internationaler Kräfte ein Traumgebilde bleibt. Der Ruf nach „Selbstbestimmung“ Aufrufe zur „Selbstbestimmung“ im Falle des Kosovo müssen in den gegenwärtigen historischen Kontext gestellt werden. Selbstbestimmung ist keine abstrakte Forderung außerhalb von Zeit und Raum, sondern muss entsprechend ihres konkreten Beitrages zum Fortschritt des Klassenkampfs gesehen werden. Das Auseinanderbrechen von Titos Jugoslawien ist unabdingbar mit der Wiedereinführung kapitalistischer gesellschaftlicher Beziehungen in der Region verbunden und mit der Stärkung prokapitalistischer politischer Kräfte in jeder Republik. Wie der Fall Serbiens illustriert, hat das die ArbeiterInnenklasse verkrüppelt, sie hat sich von dieser historischen Niederlage noch nicht erholt. Es gibt keinen Grund, warum es im Fall des Kosovo anders sein sollte. Sich selbst überlassen, von allen Seiten isoliert, mit einer zerrütteten Wirtschaft und dem imperialistischen Stiefel auf seinem Boden, sind die Chancen auf Entwicklung in der nächsten Zeit gering. Eine Unabhängigkeitserklärung würde der lokalen herrschenden Klasse nur mehr Spielraum verschaffen, um Privatisierung und Raub fortzusetzen und die Position des Imperialismus in der Region stärken. Die MarxistInnen in Serbien müssen zuerst und vor allem ihre Stimme gegen die heimische Bourgeoisie erheben, die den Kosovo ausplündert. Gleichzeitig haben wir die Verantwortung, nicht Illusionen zu nähren, die vom Imperialismus und seinen Gehilfen in Pristina verbreitet werden, dass ein unabhängiger Kosovo den albanischen Massen Freiheit brächte. Jeder marxistische Vorstoß, das Recht auf Selbstbestimmung des Kosovo zum vordringlichen Thema zu machen, wo die Massen gerade erst zu erkennen beginnen, dass die einheimische herrschende Klasse nicht fähig ist, dieses Versprechen auszuführen, verfehlt den eigentlichen Punkt. Die Unabhängigkeit des Kosovo wird nicht nur nicht die albanische nationale Frage lösen, sondern die allgemeine Frage des nationalen Konflikts auf dem Balkan noch komplizierter machen. Sollen MarxistInnen das Recht auf Selbstbestimmung für die SerbInnen im Kosovo vertreten, sobald die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannt ist? Wie steht es dann mit der Republik Srpska und Bosnien? Die Verhandlungen über den Status des Kosovo haben in Bosnien und Herzegowina die größte Krise seit dem Ende des Kriegs 1995 ausgelöst. Die Führung der bosnischen SerbInnen bläst gleichfalls ins Horn des „Rechts auf Selbstbestimmung“, sobald sie ihre Autonomie von Zentralisierungstendenzen der EU innerhalb des Landes eingeschränkt sehen. Die mögliche Wiedervereinigung der Republik Srpska mit Serbien, auf die Belgrad als Minimumkompensation für den Verlust des Kosovo besteht, würde Kroatien wieder in den Wirbel hineinziehen und die bosnischen Moslems in der Mitte verstreut zurücklassen. Ein unabhängiger Kosovo stellt auch den Status der albanisch sprechenden Bevölkerung Mazedoniens in Frage. Dann gibt es die albanische Minderheit im Presevo-Tal im Süden Serbiens, die bereits 2001 einen Aufstand als Echo auf den Kosovokrieg und die Krise in Mazedonien erlebte. Die Liste lässt sich fortsetzen... Die Situation, der wir gegenüberstehen, ist keine neue. Wie bereits erklärt, ist die Region in vielerlei Hinsicht hinter den Stand von 1913 zurückgefallen. Glücklicherweise verfügt der Balkan über eine reiche sozialistische Tradition, an die wir anknüpfen können. Wir haben das Privileg, davon zu lernen, wie die SozialistInnen dieselbe Angelegenheit vor fast 100 Jahren angegangen sind. Die Resolution der ersten sozialdemokratischen Balkankonferenz in Belgrad im Jänner 1910 sagte dazu: “Unter der verstärkten Bewachung und dem überlegenen Einfluss der europäischen Diplomatie wurde in der Vergangenheit im Südosten Europas das Instrument der politischen Expansion des europäischen Kapitalismus, der territorialen und nationalen Beziehungen geschaffen und besonders auf der Balkanhalbinsel hindert es die moderne wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Völker und steht ihren Interessen und Bedürfnissen aufs schärfste entgegen. Aus diesem Widerspruch erwachsen alle jene Krisen, Unruhen und Vorfälle, die der europäischen Diplomatie und ihren monarchistisch-reaktionären AgentInnen am Balkan als Vorwand dafür dienen, ihre Politik der Einmischung, der Bewachung, der Eroberung und der Reaktion aufrecht zu erhalten... Alle fortschrittlichen Kräfte der Nation müssen danach streben, sich selbst vom Partikularismus und der Provinzialität zu befreien... die Grenzen, die oft Völker derselben Sprache, Nationalität und Kultur oder Regionen, die wirtschaftlich und politisch voneinander abhängen, spalten....Im Erkennen der Notwendigkeit und Legitimität der Bestrebungen der Nationen Südosteuropas nimmt die Erste Sozialdemokratische Balkankonferenz die Position ein, dass diese nur durch einen Zusammenschluss ihrer ökonomischen Kräfte zu einem Ganzen umgesetzt werden können, durch Abschaffung künstlich gezogener Grenzen und die Befähigung, gemeinsam in vollem Austausch und vereinter Verteidigung gegen die gemeinsame Gefahr zusammenzuleben.“ (Hervorhebung durch Goran M.) Diese Plattform nahm später in der Idee einer sozialistischen Balkanföderation als einzige mögliche Antwort auf die ethnische Diversität und ökonomische Rückständigkeit der Region konkrete Gestalt an. Heute ist diese Losung mehr denn je zuvor anwendbar. Jene, die meinen, sie sei zu abstrakt oder idealistisch, verweisen wir auf die Erfahrungen der letzten 15 Jahre, die durch das Bestehen auf das Recht auf Selbstbestimmung auf kapitalistischer Basis hervorgerufen worden sind. Die größten IdealistInnen sind die, die glauben, dass die nationale Frage am Balkan dadurch gelöst werden kann, diesen Weg noch weiter zu verfolgen. Ob unsere Alternative konkret und real werden kann, hängt vor allem von einem ab – der Rückkehr der regionalen ArbeiterInnenklasse in die politische Arena. Bei Betrachtung der Situation in Serbien und im Kosovo wird klar, dass ein Versuch der serbischen ArbeiterInnenklasse, das politische Vakuum innerhalb des Landes dadurch zu füllen, dass eine eigene unabhängige politische Organisation mit einer internationalistischen Position zum Kosovo aufgebaut wird, notwendigerweise ein Echo in der Provinz finden wird. Unter den Bedingungen der Isolation und Hoffnungslosigkeit würde diese Art der Verbrüderung herzlich willkommen geheißen werden. Dasselbe gilt für alle früheren jugoslawischen Republiken. Wie oben festgehalten zeigt uns die neue Bewegung in Slowenien den Weg vorwärts. Die Medien in der Region, die normalerweise blitzschnell jeden kleinen Vorfall oder jedes Statement aus den benachbarten Ländern, sofern passend zur chauvinistischen Propaganda, veröffentlichen, entschlossen sich dazu, diese zu ignorieren. In einer Demonstration der Stärke der ArbeiterInnenklasse strömten 70.000 GewerkschafterInnen und StudentInnen auf die Straßen Ljubljanas, darunter viele ArbeiterInnen und Jugendliche verschiedener Nationalitäten aus den früheren Republiken, alle unter dem Banner der Verteidigung ihrer sozialen Forderungen versammelt. Wenn wir ähnliche Szenen auf den Straßen Belgrads, Pristinas, Skopjes, Zagrebs oder Sarajewos sehen, werden wir auf die derzeit schwierigen Zeiten mit einem Lächeln zurückblicken, weil wir dann wissen, dass der Klassenkampf am Balkan wieder eingekehrt ist. Dezember 2007 Source: Der Funke