Alan Woods über die Russische Revolution - Teil 1, "Der Aufstieg des Stalinismus vollzog sich allmählich" German Share Tweet German translation of Alan Woods on the Russian Revolution – Part One, "The rise of Stalin was a gradual process" (October 2008) Teil I des Interviews mit Alan Woods (Chefredakteur von www.marxist.com) über die Russische Revolution. Er wurde von Sudestada, einem argentinischen Monatsmagazin für Kunst, Kultur und Nachrichten, über die Russische Revolution und ihre spätere Entartung befragt. Alan Woods erklärte, dass nicht der Sozialismus versagt habe, sondern eine bürokratische Karikatur des Sozialismus. Welches waren die wichtigsten Gründe dafür, dass man Stalin nach der siegreichen Oktoberrevolution bedeutende Posten in der Partei übertrug? Die Organisationsarbeit nahm nach der Revolution unweigerlich eine enorme Bedeutung an, als die Bolschewiki die Verantwortung für die Leitung eines riesigen Staatsapparates hatten, und die Menschen mit Nahrung versorgen, das Transportsystem in Gang halten mussten etc., während ein Bürgerkrieg wütete. Die Arbeit nahm einen großen Teil der Parteikader in Anspruch, die die Arbeit des Staatapparats am Laufen hielten. Es gab in dieser Situation deutliche Gefahren und Lenin war bestrebt eine starke Kontrolle über diese Arbeit zu behalten. Swerdlow erfüllte diese Aufgabe als Generalsekretär der Partei bewundernswert. Er war ein hervorragender Organisator, ein ehrlicher Mensch, ohne persönlichen Ehrgeiz, der sich der Sache der Revolution und der Partei vollkommen widmete, obwohl er kein Theoretiker war. Als Swerdlow 1919 starb, suchte Lenin einen guten Organisator mit einem starken Charakter, der sich um diesen Aspekt der Arbeit sorgen sollte. Aber er täuschte sich. Stalin benutzte seine Position in der Partei und im Staatsapparat (beide Positionen wurden immer stärker miteinander identifiziert), um seine Kumpanen zu befördern und die Macht in seinen eigenen Händen zu konzentrieren. Lenin hat das in seinem so genannten Testament später kommentiert. Warum, glauben Sie, mischte sich Trotzki nicht in die Diskussion über die Georgien-Frage ein (obwohl er Lenins Meinung und dessen Bereitschaft, gegen die Position Stalins zu kämpfen, kannte) und warum stimmte er dem Vorschlag für einen Amtswechsel des Generalsekretärs auf dem XII. Kongress nicht zu? In der letzten Phase seiner Krankheit wurde Lenin bewusst, dass es in der Partei zu ernsten Abweichungen gekommen war. Trotz eifriger Bemühungen seitens Stalins, ihn von der Realität zu isolieren, erfuhr Lenin von dem skandalösen Verhalten Stalins und seiner Verbündeten Dscherschinski und Orschonikidse in Georgien. Diese hatten sich bürokratischer Methoden bedient und die nationalen Gefühle der Menschen mit Füßen getreten und die georgischen Bolschewiki u.a. durch den Einsatz physischer Gewalt gegen die Parteiführer unterdrückt. Als Lenin davon erfuhr, wurde er wütend und verlangte den Parteiausschluss von Stalins Handlanger Ordschonokidse. Er schrieb Mdivani, dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Georgiens, eine Botschaft und versprach den georgischen Bolschewiki seine volle Unterstützung gegen Stalin, Dscherschinski und Ordschonokidse. Von seinem Totenbett aus bereitete Lenin den Kampf gegen Stalin vor (sein Sekretär sagte: "Wladimir Iljitsch plant etwas Verheerendes gegen Stalin") und bildete einen Block mit Trotzki. Aber kurz darauf verschlechterte sich Lenins Gesundheitszustand und machte es ihm unmöglich, am Parteikongress teilzunehmen. Als er durch die Krankheit arbeitsunfähig wurde, änderte sich alles. Niemand besaß Lenins Autorität und Trotzki zögerte, eine Auseinandersetzung vom Zaun zu brechen, welche zu einer voreiligen Spaltung geführt hätte. Außerdem hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Lenin sich wieder erholen würde. Deshalb entschied er sich dafür auf Zeit zu spielen. Um Trotzkis Motive zu beurteilen, ist es notwendig, den objektiven Zusammenhang zu verstehen, in dem sich der innerparteiliche Kampf entfaltete. Es bestand die große Gefahr, dass es in der Parteiführung zu einem offenen Riss entlang der Klassenlinien gekommen wäre, welche die Diktatur des Proletariats geschwächt und zu einer kapitalistischen Konterrevolution geführt hätte. Die Führung – die "Troika"(Stalin, Sinowjew, Kamenjew) – beschuldigte Trotzki verschiedener Dinge und er wollte nicht als Spalter erscheinen. Das war der eigentliche Grund, warum er diese offene Auseinandersetzung auf dem 12. Parteikongress nicht begann. In seiner Autobiographie "Mein Leben" bestätigt Leo Trotzki, dass Lenin ihn als seinen offenkundigsten Nachfolger im Politbüro auserwählt hatte. Warum, glauben Sie, hat Lenin diese Entscheidung niemals öffentlich gemacht? Der 12. Kongress fand Anfang 1923 statt, zu einem Zeitpunkt als die Führungsclique noch nicht von ihrer Position überzeugt war und vorsichtig agierte. Stalin spielte eine scheinbar untergeordnete Rolle. Er war außerhalb eines engen Kreises von Parteikadern nahezu unbekannt. Es war Sinowjew, der in diesem Stadium die führende Rolle übernahm. Lenin selbst verfuhr zu diesem Zeitpunkt noch vorsichtig. Er ließ seinen Brief nicht veröffentlichen, denn er hoffte, das Problem innerhalb der Partei lösen zu können. Weder Lenin, noch Trotzki, noch ein anderer Beteiligter erkannten den vollen Ernst der Lage oder konnten erkennen, welches Ende sie nehmen würde. Lenin machte sich Sorgen über die Gefahren einer kapitalistischen Konterrevolution, eine Sorge, die von Trotzki geteilt wurde. Zu dieser Frage schrieb Lenin: " Unsere Partei ruht auf zwei Klassen, und deshalb ist Instabilität möglich und ihr Sturz nicht zu vermeiden, wenn es dazu käme, daß zwischen diesen beiden Klassen kein Übereinkommen entstehen würde. Es macht keinen Sinn, für diesen Fall die eine oder andere Maßnahme zu treffen und überhaupt von der Stabilität unseres ZK zu reden. Keine Maßnahme wird in einem solchen Fall die Spaltung verhindern können. Ich hoffe aber, dies liegt in zu ferner Zukunft und ist eine viel zu unwahrscheinliche Möglichkeit, als daß man darüber reden müßte." Lenin fürchtete, dass ein offener Riss zwischen Trotzki und Stalin eine Spaltung der Partei entlang der Klassenlinien provoziert hätte. Deshalb veröffentlichte er seine Ansichten über die Führung nicht und drückte sich in seinem Testament sehr vorsichtig aus. Vergessen wir nicht, dass er persönlich am 12. Kongress teilnehmen wollte, auf dem er sich, wie ich glaube, wesentlich deutlicher ausgedrückt hätte. In seinem Testament sagt Lenin, dass Trotzki "sich durch hervorragende Fähigkeiten auszeichnet. Als Persönlichkeit ist er wohl der fähigste Mann im jetzigen ZK (…). Über Stalin schrieb er: "Genosse Stalin hält, nachdem er Generalsekretär wurde, eine unermeßliche Macht in seinen Händen, und ich bin nicht überzeugt, daß er es immer verstehen wird, diese Macht vorsichtig genug anzuwenden." Hier drückte sich Lenin vorsichtig aus, aber später fügte er eine Nachschrift hinzu, in der er Stalin als grob und illegal bezeichnete und seine Ablösung vom Posten des Generalsekretärs befürwortete. Es ist besteht das Problem, dass es zu einfach ist, diese Ereignisse im Nachhinein zu betrachten. Wir müssen daran denken, dass der Aufstieg Stalins und der Bürokratie nicht über Nacht geschah. Es handelte sich um einen schrittweisen Prozess, der die reale Situation im Land widerspiegelte, nachdem die Revolution in einem Zustand grausamer Rückständigkeit isoliert war. Zu Beginn fand dies keinen Ausdruck in öffentlichen politischen Differenzen. Es drückte sich vielmehr in der Stimmung in der Gesellschaft aus. Es handelte sich dabei um eine kleinbürgerliche Reaktion gegen die Tradition des Oktober. Der Bürokrat im Allgemeinen wünscht sich ein friedliches Leben, er möchte bei seiner Arbeit, die Gesellschaft von seinem Büro aus zu "ordnen", allein gelassen werden. Er betrachtet die Einmischung der ArbeiterInnen als Störung. Für den sowjetischen Bürokraten waren die Sturm- und Drangjahre von 1917-19 etwas Fremdes – eine Art kollektiver Wahnsinn oder soziale Unordnung. Deshalb sehnte sich die Bürokratie in den Jahren nach der Revolution und des Bürgerkrieges nach Ruhe und Ordnung. Das war die psychologische Basis für die "Theorie" vom Sozialismus in einem Land. Diese formulierte die Psychologie der Bürokratie, die ihren Bezugspunkt in Stalins Fraktion fand. Aber das war noch Zukunftsmusik. Stalin im Übrigen verstand selbst nichts und sah nichts vorher. Er war ein typischer Bürokrat (Trotzki bezeichnete ihn als "die größte Mittelmäßigkeit der Partei"), der empirisch vorging, keinen vorher festgelegten Plan hatte, sondern den nur sich selbst voranzubringen und seine Rivalen auszuschalten. Trotzki sagte einmal, dass, wenn Stalin zu diesem Zeitpunkt gewusst hätte, wo er enden würde, er sehr wahrscheinlich nicht weiter gegangen wäre. Welche Haltung nahm Trotzki ein, als das Testament auf einer Politbürositzung publik gemacht wurde? Unterstütze er die Verteilung des Dokuments auf dem bevorstehenden Kongress oder war er dagegen? Lenin schrieb das Testament am 04. Januar 1923, ein Jahr vor seinem Tod. Er starb am 21. Januar 1924, aber sein politisches Leben endete bereits im März 1923. Nur zwei Menschen wussten von der Existenz des Dokuments, der Stenograf, dem er es diktiert hatte, und seine Frau N. Krupskaja. Solange Hoffnung auf Lenins Wiedergenesung bestand, hielt Krupskaja das Dokument unter Verschluss. Aber nach Lenins Tod, am Vorabend des 13. Kongresses, überreichte sie dem Sekretariat des ZK das Testament, um es entsprechend Lenins Wünschen dem Parteikongress bekannt zu geben. Die erste offizielle Verlesung im Kreml fand im Ältestenrat des 13. Kongresses der Partei am 22. Mai 1924 durch Kamenjew statt. Zu diesem Zeitpunkt war der Parteiapparat halbamtlich in den Händen der Troika. Deren Mitglieder waren natürlich gegen die Verlesung des Testaments auf dem Kongress. Aber Krupskaja bestand darauf. Die Anfrage wurde an die Versammlung des Ältestenrates, d. h. an die Leiter der Provinzdelegationen, weitergegeben. Hier erfuhren Trotzki und die anderen Mitglieder der Opposition zum ersten Mal von dem Testament. Auf dieser Versammlung begann Kamenjew den Text laut vorzulesen. Niemand durfte sich Notizen machen. Als Ergebnis eines Schachzugs der Troika wurde eine Resolution präsentiert, die besagte, dass jeder Delegation das Dokument getrennt vorgelesen werden sollte, wiederum sollten keine Notizen gemacht werden und auf der Plenarsitzung des Kongresses sollte das Testament nicht erwähnt werden. Krupskaja argumentierte, dass dies nicht im Sinne Lenins sei. Aber die Mitglieder des Ältestenrates waren unerbittlich und eine überwältigende Mehrheit stimmte der Resolution der Troika zu. Viele Jahre wusste kaum jemand in Russland von der Existenz des Testaments. Es war nur im stenografischen Bericht des ZK veröffentlicht worden, der nur Parteifunktionären zugänglich war, und verschwand bald ganz. Max Eastman, der die Linke Opposition unterstützte, veröffentlichte Lenins Testament erstmals in den 1920er Jahren außerhalb der UdSSR. Es wurde dort erst nach Chruschtschows berühmter Rede, in der er Stalins Verbrechen verurteilte, 1956 veröffentlicht. Trotzki schreibt in seiner Stalin-Biografie, dass das Dokument, das als Lenins Testament bekannt wurde, "Lenins letzter Hinweis zur Organisierung der Parteiführung" gewesen sei. Lenin sah in Stalins Methoden den "Beginn des Bürokratismus nicht nur in den Institutionen der Sowjets, sondern auch in der Partei". Um gegen diese Gefahr zu kämpfen, diktierte er einen vertraulichen Brief , in dem er die Führer des ZK beurteilte und zehn Tage später fügte er eine Nachschrift hinzu, in der er die Entfernung Stalins vom Posten des Generalsekretärs der Partei vorschlug. Wie schon gesagt, die Angst, dass eine Spaltung der Partei zu einer kapitalistischen Konterrevolution führen könnte, war der Grund für Trotzki, eine vorsichtige Haltung einzunehmen. Die politischen Differenzen, die in den folgenden Jahren auftauchten, zeichneten sich damals noch nicht so klar ab. Sie waren erst in einem embryonalen Zustand. Es bestand die Gefahr, dass ein Konflikt zwischen Trotzki und der Führungsclique von den Massen nicht verstanden worden oder als persönlicher Streit abgetan worden wäre. Die Differenzen in der Partei reflektierten in Wirklichkeit die verschiedenen Klassen und Gruppen in der Gesellschaft und können nicht außerhalb dieser tief sitzenden sozialen Strömungen verstanden werden. Frage: Wie würden Sie die Rolle von Männern wie Sinowjew und Kamenjew in der Russischen Revolution definieren? Sinowjew und Kamenjew waren bedeutende Führer der bolschewistischen Partei, der sie sich schon von 1914 angeschlossen hatten. Sie machten jedoch schwere Fehler. 1917 schwankten sie in der Frage der Machtübernahme durch die ArbeiterInnen. Im Februar, nach dem Sturz Kerenskis, nahmen Kamenjew und Stalin versöhnlerische Position in Bezug auf die reformistischen Führer und die bürgerliche Provisorische Regierung ein. Lenin war gezwungen auf der April-Konferenz einen heftigen Fraktionskampf gegen sie zu führen, als er, mit Unterstützung der proletarischen Parteimitglieder, die Partei wiederbewaffnete und ihr mit der Losung "Alle Macht den Räten" die richtige Orientierung gab. Später, zur Zeit des Oktoberaufstands, schwankten Sinowjew und Kamenjew erneut und waren gegen den Aufstand. Sie veröffentlichten sogar den Plan für die Revolution in der bürgerlichen Presse, weswegen Lenin sie als Streikbrecher bezeichnete und ihren Ausschluss aus der Partei forderte. Direkt nach dem Aufstand stellten sie sich jedoch in den Dienst der Revolution und erhielten Führungspositionen in der Partei. Selbst vor Lenins Tod bildeten sie mit Stalin einen geheimen Block, der als Troika (Triumvirat) bekannt wurde und sich gegen Trotzki richtete. Sie erfanden zu diesem Zeitpunkt das Märchen vom "Trotzkismus", um in den Augen der Partei einen Keil zwischen Lenin und Trotzki zu treiben. Sinowjew war von einem persönlichen Ehrgeiz getrieben, weil er sich als Nachfolger Lenins betrachtete. Er hatte die Führungsrolle in der Kampagne gegen Trotzki. Aber im Hintergrund war es Stalin, der seine Machtposition festigte. 1926, als Stalin erstmals seine Vorstellung vom „Sozialismus in einem Lande“ öffentlich verkündete, brachen Sinowjew und Kamenjew mit ihm, weil sie über die von Stalin eingeschlagene Richtung beunruhigt waren. Später bildeten sie einen Block mit Trotzki, die Vereinigte Opposition, die ihren Kampf gegen Stalin und die Bürokratie und für eine Rückkehr zum Leninismus, für Sowjetdemokratie, für die Industrialisierung und Fünfjahrespläne, gegen die rechte pro-kulakische Abweichung von Stalin und Bucharin und für den proletarischen Internationalismus führte. Nachdem die Opposition 1927 ausgeschlossen wurde, kapitulierten Sinowjew und Kamenjew vor Stalin. Das rettete sie aber nicht. Sie wurden später aus der Partei ausgeschlossen und inhaftiert. Sie kapitulierten erneut und wurden in Stalins erstem Säuberungsprozess vor Gericht gestellt und aufgrund von gefälschten Anklagepunkten hingerichtet. Das war der Beginn eines einseitigen Bürgerkrieges, den Stalin gegen die bolschewistische Partei führte, wie es Trotzki bezeichnete. Trotz aller Fehler und Defizite waren Sinowjew und Kamenjew ehrliche Revolutionäre, die sich der Sache des Sozialismus und der Arbeiterklasse verschrieben hatten. Um seine Macht zu festigen, musste Stalin Lenins Partei und besonders deren Führungskader eliminieren. Deswegen ließ er Sinowjew und Kamenjew zusammen mit vielen anderen alten Bolschewisten und engagierten Kommunisten ermorden. Das zeigt uns, dass der Leninismus und der Stalinismus sich gegenseitig ausschließen. Sie sind durch einen blutgetränkten Fluss voneinander getrennt. Übersetzung: Tony Kofoet Source: Der Funke